Die Risikoabschätzungen für Hautkrebs und Katarakt auf Basis der 1997er Folgevereinbarungen des Montrealer Protokolls lassen hoffen: Die Menschheit kommt noch einmal mit einem "blauen Auge" davon und entgeht der ganz großen Katastrophe. Gleichwohl gibt auch die gebremste Ozonschichtzerstörung genug Anlaß zur Besorgnis. 18 Millionen vermiedene Hautkrebsfälle sind zwar ein Erfolg. Doch bis 2050 erkranken infolge Ozonschichtverdünnung an Hautkrebs etwa zwei Millionen Menschen, für die es kein Trost ist, daß es insgesamt hätte viel schlimmer kommen können.
Dazu kommt: Das Jahr 2050 als Zeitpunkt der erholten Ozonschicht basiert auf Annahmen, die aus heutiger Sicht offenbar zu optimistisch sind. Zwei Faktoren stellen 2010 als Beginn einer vierzigjährigen Regeneration der Ozonschicht infrage. Erstens die verlangsamte Abnahme der atmosphärischen Chlorbelastung. Zweitens die erhöhte Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Beide Faktoren überlagern sich. Eine erholte Ozonschicht ist vor Ende des 21. Jahrhunderts unwahrscheinlich.
5.1 Verlangsamter Rückgang der äquivalenten Chlorbelastung
Werden die in der Prognose "Ozonschichterholung 2050" noch nicht berücksichtigten höheren Emissionen von Halonen und FCKW zusammengenommen, ist für den Abbau der äquivalenten atmosphärischen Chlorbelastung auf das 1980er Niveau eine Zeitverzögerung von zehn Jahren durchaus wahrscheinlich.
5.1.1 Halone halten die Brombelastung hoch
Der Rückgang der äquivalenten Chlorbelastung ab 2010 ist vor allem durch den unerwartet hohen und anhaltenden Bromeintrag aus Halonen gefährdet (Montzka et al. 1999). Die Berechnungen für die erholte Ozonschicht ab 2050 basieren auf Halon-Produktionsdaten, aus denen sich erstens 1988 als Gipfel der Halon-Emissionen und zweitens 2000 als Gipfel der atmosphärischen Bromkonzentration ergeben hatten (bei 17 ppt). Ab 2000 sollte die Bromkonzentration in einen leichten, aber stetigen Rückgang übergehen (s. Abb. 19). Beides gilt durch neue atmosphärische Messungen als überholt.
Abb. 19. Trendprognose für stratosphärische Chlor- und Brom- belastung nach WMO 1998. Der Rückgang beim Brom ab 2000 (unten - in ppt) tritt in den nächsten Jahren wohl so nicht ein. Auch beim Chlor (oben - in ppb) ist nicht gesichert, daß ab 2000 die Konzentration konstant bleibt. Bildquelle: NASA GSFC 1999. |
Im Gegensatz zu den Hochrechnungen aus den Produktionsdaten belegen die Messungen (Fraser/Prather 1999), daß die Halonemissionen seit 1988 bis heute unvermindert (um jährlich 200 t) weitergestiegen sind und um 50% höher liegen als bisher angenommen.
Es geht um Halon-1211 aus Handfeuerlöschern, das gegenüber FCKW-11 das dreifache Ozonzerstörungspotential (ODP) aufweist und Halon-1301 aus Raumlöschanlagen, dessen ODP sogar zehn Mal so hoch wie das von FCKW-11 ist.
Der 1994 erfolgte Produktionsstopp in den Industrieländern wurde im Tempo seiner Wirkung offenbar überschätzt. Halone werden nämlich jahrzehntelang im Feuerlöschgerät bevorratet, sie emittieren allmählich aus Undichtigkeiten oder bei Löschübungen, beim Löschen selbst und schließlich bei der Anlagenverschrottung. Nur in wenigen Ländern müssen sie vorzeitig entleert und als Sonderabfall verbrannt werden. Und selbst dort, wo dies Vorschrift ist (wie in Deutschland), wird es kaum praktiziert. Die jährlichen Halon-Freisetzungen aus Altanlagen wurden von Greenpeace 1995 allein für Deutschland für mindestens 20 Jahre auf jährlich 200 Tonnen geschätzt. (Weltweit betragen die Halonemissionen zur Zeit etwa 12 000 Jahrestonnen.)
Entwicklungsländer brauchen die Halonproduktion erst 2010 zu beenden. Vor allem China verdreifachte von 1993 bis 1997 seine Herstellung auf 11 000 t Halon-1211 und 600 t Halon 1301 (UNEP [TEAP] 2000). Wegen des hohen Ozonzerstörungspotentials sind dies etwa 40 000 t ODP-gewichtete Tonnen. Zwar geht die Produktion seit 1998 zurück, weil mit internationalen Geldern aus dem Multilateralen Fonds, wie es das Montrealer Protokoll vorsieht, Umstellungsprojekte finanziert wurden. Dennoch ist kaum zu verhindern, daß die bis 2010 neuprouzierten Halone zu Löschmitteln werden und Jahrzehnte später in der Atmosphäre die Bromkonzentration erhöhen.
1998 wurde geschätzt, daß die hohen Emissionen von Halonen, die in den Industrieländern vor dem Produktionsstopp hergestellt wurden, für mindestens weitere 10 (bei Halon 1211) bzw. 40 Jahre (bei Halon 1301, wegen längerer Lebensdauer) zum Anstieg der Bromkonzentration führen werden (Butler et al. 1998). Und wenn sie nachlassen, treten Halonemissionen aus der bis 2010 erfolgten Neuproduktion der Entwicklungsländer viele Jahre lang an ihre Stelle. Der Rückgang der atmosphärischen Chlorbelastung durch verminderte FCKW-Einträge wird durch erhöhte Bromkonzentration zu großem Teil wieder ausgeglichen. Der Zeitpunkt der erholten Ozonschicht muß "um Jahre" (Fraser 1999) nach hinten datiert werden.
5.1.2 Die "vergessenen" FCKW
Sicherlich sind Halone, vor allem Halon-1211, gegenwärtig die größte Bedrohung für die Erholung der Ozonschicht. Doch auch auf Seiten der FCKW gibt es Unwägbarkeiten für die Prognose "Ozonschichterholung 2050". Nur wenige Beispiele:
Illegale FCKW. Die illegale Produktion von FCKW-12 für Kälte-/Klimaanlagen in Industrieländern wird auf 20 000 Jahrestonnen geschätzt (WMO 1998, 19). Zehn Jahre lang 20 000 t Neuproduktion von verbotenem FCKW-12 erhöhen, sobald die Substanz in die Atmosphäre gelangt, dort die Chlorbelastung um mindestens 40 ppt.
Asthmasprays. Die Verzögerung des weltweiten Ausstiegs von FCKW (11, 12, 114) aus Asthmasprays von 2000 (wie vorgesehen) auf 2006/2008 (wie wahrscheinlich) erhöht die atmosphärischen Chlorbelastung um etwa 20 ppt (nach WMO 1998, 19).
FCKW aus Hartschaum. Zwischen 1965 und 1995 wurden FCKW-11 und -12 in Hartschäume aus Polyurethan (PU) oder extrudiertem Polystyrol (XPS) als wärmedämmende Zellgase eingeschlossen. Die Nutzung der Schaumstoffe (Schwerpunkt Bausektor) dauert im Durchschnitt 50 Jahre. Während dieser Zeit gasen die FCKW teilweise aus, zu großem Teil bleiben sie im Schaum und werden erst nach dessen Ausbau und Ablagerung auf Bauschuttdeponien u. dgl. frei. Die Ausgasung aus deponierten Dämmstoffen liegt zeitlich noch vor uns. Ihre Mengenabschätzung wurde selten versucht (für England s. ENDS 1997, für Deutschland s. Greenpeace 1995). Doch global ist mehrere Jahrzehnte lang mit Jahresemissionen in der Größenordnung von 10 000 t (Untergrenze) zu rechnen und folglich mit über 100 zusätzlichen ppt atmosphärischer Chlorbelastung.
Zusammen sind das allein 160 ppt, für deren Abbau ca. vier zusätzliche Jahre erforderlich sind.
5.2. Bald Ozonloch am Nordpol dank Treibhauseffekt
Nach neueren internationalen Studien bewirkt der fortdauernde Klimawandel, daß die Ozonverluste über der Nordhalbkugel in rund zwanzig Jahren doppelt so groß sein werden wie heute. Über der Antarktis werden weniger dramatische Veränderungen erwartet, da die Ozonhülle dort ohnehin schon viel stärker geschädigt ist. Die Angleichung der Arktis an die Antarktis wird schon in wenigen Jahrzehnten zu einem Ozonloch über dem Nordpol führen, das Ausmaße wie über der Antarktis Anfang der 90er Jahre erreicht. Zwar nimmt der Chlorgehalt der Atmosphäre tendenziell ab. Dies wird jedoch durch Abkühlung der arktischen Stratosphäre um bis zu 5°C und damit einhergehende verstärkte PSC-Bildung und Denitrifikation überkompensiert. Die stratosphärische Abkühlung ihrerseits ist hauptsächlich Folge erhöhter Konzentration von Treibhausgasen. Die Erholung der Ozonschicht über der Arktis und damit über der nördlichen Halbkugel wird nicht 2000, sondern erst ab 2020 einsetzen und sich bis in das späte 21. Jahrhundert hinauszögern.
5.2.1 Die stratosphärische Abkühlung
Messungen mit Radiosonden und Satelliten weisen seit 1980 für die untere Stratosphäre (16-21 km) im globalen Mittel einen Rückgang um 0,6°C pro Jahrzehnt auf. Über beiden Polen beträgt im Spätwinter/Frühling die Abkühlung sogar -3°C pro Jahrzehnt (WMO 1998, 13).
Die eine Ursache der Abkühlung ist der Ozonabbau selbst: Da Ozon bei seiner UV-B-Absorption die Stratosphäre durch Energieabgabe aufwärmt (s. Kap. 1.2), bedeutet Ozonverlust zugleich Wärmeverlust. Der andere, mittlerweile gleichwertige und ständig zunehmende Beitrag zur stratosphärischen Abkühlung kommt paradoxerweise von den Treibhausgasen. CO2 (Kohlendioxid) und andere Treibhausgase (darunter FCKW und als FCKW-Ersatz eingesetzte HFKW wie HFKW-134a) heizen nicht nur die Troposphäre auf, indem sie die infrarote Wärmeabstrahlung der Erde absorbieren und zurücksenden. Die Kehrseite ist, daß dadurch weniger Wärme von der Erdoberfläche in die Stratosphäre rückgestrahlt wird. Eine Verdopplung der Treibhausgas-Konzentration läßt die Temperatur in der unteren arktischen Stratosphäre um 5°C absinken (Waibel et al. 1999).
Nach Waibel et al. (1999) wird 2070 der Ozonschwund über der Arktis mindestens genauso groß wie heute sein. Zwar hat sich dann die Chlorbelastung wieder normalisiert. Doch die um 5°C tieferen Temperaturen infolge des Treibhauseffekts erhöhen so kräftig die Denitrifikation durch schwere und schnell absinkende PSC-Partikel, daß der Ozonabbaus im Frühling noch genauso rasch voranschreitet.
Eine Angleichung der Arktis an die Antarktis halten US-Forscher (Tabazadeh et al. 2000) in der Tendenz schon ab 2010 für möglich. Um 3 bis 4°C niedrigere Temperaturen und höhere Luftfeuchte als Folge des Treibhauseffekts genügen, um lang anhaltende PSCs herauszubilden, welche für die Entfernung stickstoffhaltiger reaktiver Verbindungen sorgen. Die Folge: "Im Frühling dramatische Ozonverluste über der nördichen Hemisphäre, wo viele Menschen leben".
5.2.2 Erhöhte Stabilität des arktischen Polarwirbels
Nicht nur die größere Kälte ist der Grund dafür, daß sich gegenwärtig nur am Südpol und nicht am Nordpol ein Ozonloch herausbildet. Entscheidend ist die große Stabilität des antarktischen Polarwirbels, der die kalte Stratosphäre von der wärmeren und ozonreicheren Umgebungsluft monatelang abschottet.
Anhand eines hochentwickelten Klimamodells haben Forscher der NASA (Shindell et al. 1998) herausgefunden, daß die unverminderte Erhöhung der atmosphärischen Treibhausgas-Konzentration zu Änderungen der Temperatur und der Windrichtungen führt, so daß die planetaren Wellen (s. 3.5) abgeschwächt werden, die den arktischen Polarwirbel immer wieder auflösen. Die Häufigkeit der Zusammenbrüche des Polarwirbels wird stark zurückgehen, so daß in dem stabileren Wirbel die Temperaturen dauerhafter als bisher unter dem Schwellenwert bleiben, bei dem sich die PSCs bilden, die inaktives Chlor aktivieren und zugleich den Stickstoff entfernen (Denitrifikation).
Diese Wissenschaftler sagen trotz des nach 2010 einsetzenden allmählichen Rückgangs der atmosphärischen Chlorbelastung für 2020 einen doppelt so hohen Ozonverlust voraus, wie er ohne den Einfluß der Treibhausgase entstünde. Das Maximum der nordpolaren Ozonzerstörung wird in den Jahren 2010-2019 erwartet. Und in den zwanzig Jahren zwischen 2000 und 2019 wird sich der Ozonverlust in Ausmaßen bewegen, die den antarktischen Ozonlöchern der frühen 90er Jahre entsprechen. Die am härtesten betroffenen arktischen Regionen müssen mit zeitweiliger Zerstörung des Gesamtozons um über 60% rechnen.
Wegen der großen Bevölkerungsdichten in hohen nördlichen Breiten wäre es eine sehr kritische Entwicklung, wenn sich die Modellberechnungen in diesem Umfang bewahrheiten. Die Daten werden noch weiter überprüft. Die Richtigkeit des Trends wird aber kaum infragegestellt. Andere Forscher kommen zu vergleichbaren Ergebnissen (z.B. Dameris et al. 1998).