Umweltchemikalien mit endokriner Wirkung und Reproduktionsschäden bei sieben europäischen Tierarten

Januar 1996
Ort: 
UWSF - Z. Umweltchem. Ökotox. 8 (3) 167-168 (1996)
Autor: 
Barbara Kamradt (Greenpeace e.V.)
Sprache: 
Deutsch

1. Reproduktionsschäden und Umwelthormone

Reproduktionsschäden durch Umweltchemikalien, darunter Stoffe mit östrogen- bzw. hormonähnlichen Eigenschaften, sind schon seit längerem aus Feld-Beobachtungen und experimentellen Studien bekannt (vgl. Colborn/Clement 1992). Ausgeprägte Mißbildungen sowie Entwicklungs- und Verhaltensstörungen wurden bei unterschiedlichen Tierarten (Reptilien, Vögel, Fische, Säuger) beobachtet, die meist räuberisch leben und weit oben in der Nahrungskette stehen.

Ende der 80er Jahre konnten diese Beobachtungen in einer plausiblen Arbeitshypothese zusammengefaßt werden: Zahlreiche persistente, bioakkumulierbare Umweltchemikalien (u.a. DDT, PCB, Dioxine, verschiedene Pestizide u.a.) haben möglicherweise östrogen- bzw. hormonähnliche Eigenschaften ("Umwelthormone") und können über Rezeptorbindung bzw. -blockade Hormonwirkungen auslösen bzw. unterdrücken. Zudem regen sie den körpereigenen Entgiftungsmechanismus, speziell das System der mischfunktionellen Oxygenasen (MfO) des Cytochrom-P-450 an, das nicht nur Schadstoffe, sondern auch Steroidhormone um- und abbaut und damit für die hormonelle Steuerung von Entwicklungs- und Reproduktionsprozessen eine Schlüsselrolle besitzt.

Eine Vielzahl epidemiologischer Studien hat deutliche Hinweise auf zunehmende Reproduktionsschäden beim Menschen, speziell bei Männern ergeben (Verminderung der Spermienzahl und -qualität; Zunahme an Hodenkrebs und Mißbildungen des Sexualtrakts). Diese Beobachtungen wurden Anfang der 90er Jahre gleichfalls mit zunehmender Belastung durch Umweltchemikalien mit endokriner Wirkung in Verbindung gebracht (vgl. Toppari et al. 1995). Ein Modell stellt dabei die vom synthetischen Östrogen DES (Diethylstilböstrol) ausgelöste Schädigung an den Sexualorganen der Kinder von Frauen dar, die mit DES behandelt wurden.

2. Anlage der Studie

Eine Vorrecherche zur vorliegenden Studie ergab in über 100 Fällen Indizien und Nachweise für chemikalienbedingte Reproduktionsschäden bei sehr unterschiedli­chen Tierarten. Zur genaueren Überprüfung der Frage, ob auch in Europa entsprechende Schadbilder und -ursachen vorkommen, wurden sieben Tierarten genauer untersucht: Seestern und Wellhornschnecke als Vertreter der Stachelhäuter bzw. Mollusken; zwei Fischarten (Hering, Regenbogenforelle), eine Vogelart (Flußseeschwalbe) sowie Seehund (und andere Robben) und Eisbär als Säuger.

Diese Arten kommen in verschiedenen aquatischen bzw. marinen Lebensräumen Europas (im engeren Sinne: Nord- und Ostsee) sowie der Polarregion (Eisbär; Robben) vor, wobei sie unterschiedliche Lebens- und Reproduktionsweisen repräsentieren. Sie stehen mehrheitlich weit oben in der Nahrungskette (top-Prädatoren). Bei mehreren dieser Arten gab und gibt es starke Populationseinbrüche (Wellhornschnecke; Hering, Regenbogenforellen; Flußseeschwalbe; Seehunde).

Die Studie beruht auf einer umfassenden Literaturauswertung und Expertenbefragung. Bei allen Arten wurden, soweit vorhanden, auch Befunde aus nichteuropäischen Lebensräumen berücksichtigt.

3. Die wichtigsten Ergebnisse

 

uebersicht

Als Hauptergebnis zeigt sich: Bei sechs der sieben untersuchten Arten sind reproduktionsschädigende Effekte durch verschiedene Umweltchemikalien nachgewiesen; bei Eisbären werden sie vermutet. In fünf dieser Fälle spielten z.T. neben anderen Schadstoffeffekten Störungen der Hormonbalance durch Umweltchemikalien, die das hormonelle System angreifen, sowie hormonähnliche Wirkungen von Schadstoffen eine Rolle (s. Tabelle).

Invertebraten: Schadstoffanreicherung und Reproduktionsschädigung bis hin zur Sterilität wurden in punktuell stark belasteten Habitaten beim Seestern gefunden; bei der Wellhornschnecke (wie bei ca. 120 anderen marinen Schneckenarten) treten Mißbildungen des Genitaltrakts bis hin zur Sterilität (sog. Imposex) durch die androgene Wirkung von TBT (Tributylzinn) mit lokal-regionaler Auswirkung auf die Populationsebene auf (einschließlich der Deutschen Bucht).

Fische: Ein Zusammenhang zwischen Schadstoffbelastung der weiblichen Gonaden und verminderter Schlupfrate sowie erhöhter Mißbildungsrate ist in Erbrütungsexperimenten belegt; bei Regenbogenforellen wurde darüberhinaus eine Induktion der Eidotterbildung durch Nonylphenol (Tensid) gefunden, was auf dessen östrogene Wirkung verweist.

Vögel: Bei Flußseeschwalben zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen erhöhter PCB-Belastung der Eier und verminderter Schlupfrate. Ferner werden Störungen im Reproduktionsverhalten in Zusammenhang mit PCB-Belastung berichtet.

Säuger: Die langfristige Bestandsverminderung bei Seehunden wird z.T. mit reproduktionsmindernder Organochlor-Belastung erklärt. Sie gilt bei Seehunden und anderen Robben als Teil eines umfassenderen Krankheitskpomplexes (Immunschwächung, Mißbildungen, Reproduktionsminderung). Bei Eisbären fanden sich im Körperfett die in anderen Fällen reproduktionsschädigenden Schadstoffe in z.T. relevanten Konzentrationen; deren šbertragung auf die Jungen wurde nachgewiesen. Dadurch bedingte Reproduktionsminderungen werden vermutet und gegenwärtig genauer untersucht.

4. Die Schadstoffe und ihre Wirkung

Bei den verursachenden Schadstoffen handelt es sich, soweit untersucht, in der Hauptsache um PCBs, DDT und andere Pestizide sowie verschiedene Schwermetalle. Chlororganika spielen eine bedeutende, jedoch nicht die einzige Rolle. Nichtchlorierte Verbindungen sind neben den Schwermetallverbindungen (wie Cadmium, TBT) z.B. Alkylphenole oder, aus experimentellen Untersuchungen bekannt, Phthalate (PVC-Weichmacher) und andere konsumnahe synthetische Stoffe.

Die Wirkmechanismen sind bisher nur z.T. bekannt. Generell zeigt sich ein großes Wissensdefizit. Auswirkungen auf das Hormonsystem und die hormonelle Regulierung werden erst seit kurzem systematisch untersucht. Dabei hat sich bereits gezeigt, daß "endocrine disruptors", also das Hormonsystem störende Umweltchemikalien, eine wichtige Rolle als Ursache von reproduktionsschädigenden Effekten spielen. Ein Hauptansatz dürfte die Störung des Steroid-Metabolismus und damit der Hormonbalance sein. Daneben kommt auch eine direkte hormonähnliche Wirkung vor.

Störungen des Hormonsystems sind deswegen besonders bedenklich, weil Hormone schon in sehr geringen Konzentrationen wirken und in sensiblen Entwicklungsphasen (Bildung der Ei- und Samenzellen; Embryonalentwicklung und Sexualdifferenzierung) zu oft irreversiblen Schädigungen führen können, die sich z.T. erst später, beim ausgewachsenen Organismus zeigen.

Die öffentliche Diskussion über reproduktionsschädigende Wirkungen von Umweltchemikalien und -hormonen wurde bisher in starkem Maße durch spektakuläre Schadbilder aus Feld-Beobachtungen bestimmt. Die bis zu Sterilität und lokal-regionalem Aussterben reichenden TBT-Effekte bei der Wellhornschnecke (die auch für viele andere Schneckenarten berichtet werden) unterstreichen, daß hormonschädigende Chemikalien solche massiven Wirkungen entfalten können. Die vorliegenden Beobachtungen verweisen jedoch auf eine viel breitere Basis schleichender und möglicherweise synergistischer Effekte von Umweltchemikalien und -hormonen, die neben anderen Faktoren (wie Habitatzerstörung, Überfischung) die Reproduktivität vieler Arten einschränken (deutlich z.B. bei Seehunden). Sie äußern sich nicht in sofort augenfälligen Populationseinbrüchen, tragen aber zur Erosion des Artenbestandes bei.

Die Befunde verweisen darauf, daß der heutige Umgang mit synthetischen Chemikalien, die potentiell reproduktionsschädigende Wirkungen auslösen können, ausgesprochen fahrlässig ist und strikterer Regulierung bedarf. Dies schließt das Anwendungsverbot für eine ganze Reihe von Stoffen ein. Umgekehrt zeigt der partielle Rückgang der Schadstoffbelastung aquatischer Biotope (z.B. bei DDT), daß Stoffverbote und ähnliche regulative Eingriffe sich positiv auswirken können.

Literatur

T. Colborn/C. Clement (Ed.) Chemically-Induced Alterations in Sexual and Functional Development: The Wildlife/Human Connection. Advances in Modern Environmental Toxicology XXI, New Jersey 1992


Titel und Bezug der Studie: Greenpeace e.V. (Hrg.), A. Leisewitz, Reproduktionsschäden und Umwelthormone - ein neues Umweltproblem? Umweltchemikalien mit endokriner Wirkung und Reproduktionsschäden bei sieben europäischen Tierarten, Hamburg 1996. Bezug: Greenpeace e.V., Chemiebereich, Chausseestr. 131, D-10115 Berlin.